Die Dissertation der Filmwissenschaftlerin Eva Hohenberger aus dem Jahre 1988 ist heute noch immer sehr denkenswert. Darin macht sie gleich zu Beginn klar, dass Dokumentarfilme keine Wirklichkeit abbilden, dafür aber mehrere unterschiedliche Realitätsebenen in sich tragen; u.a. die vorfilmische Realität, die nichtfilmische Realität, die nachfilmische Realität und die filmische Realität.

Besonders relevant im heutigen so stark technologisch reflexiven Zeitalter ist Hohenbergers Feststellung, dass die Kameratechnik von besonderer Bedeutung für den Dokumentarfilmbereich ist und den Entwicklungsstand des Genres bzw. die Ästhetik der Filme wesentlich beeinflusst. Dokumentarfilme haben differierende Wirklichkeitsbezüge „[…] und nutzen auf der Ebene der filmischen Realität die unterschiedlichsten künstlerischen Formen zur Darstellung der Wirklichkeit, um ihre Geschichten zu erzählen.“1
Anhand des Films „Seefeuer“ bzw. „Fuoccoammare“ von Gianfranco Rosi, der die Berlinale 2016 als bester Film absolvierte, veranschaulichen die Wirklichkeitsebenen unterschiedlicher Art den andauernden Exkurs sehr gut: Allen voran gibt es in dem Film die Rahmenhandlung mit den Familien auf Lampedusa, deren bildhafte Schilderung von Rosi in technischer Perfektion vollzogen wurde (Arri-Kamera). Heinz Huber, Gründer der Stuttgarter Dokumentarabteilung, raisonierte bereits 1956, dass zu viel Technik beim dokumentarischen Filmen den Blick auf die Wirklichkeit verstelle. Dieses Plädoyer aufgreifend schrieb Kay Hoffmann Heinz Huber: „Die Wirklichkeit schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne.“2

Diese längst etablierte Entwicklung mag sachdienlich sein und inzwischen in vielen Dokumentarfilmen ein Standard; und so kommt dokumentarisches Material immer häufiger in Kinoästhetik daher und hinterlässt so manchen Zuschauer mit einem Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf das Gesehene. Sind die Protagonisten womöglich doch Schauspieler? Der Schwenk zum Militärschiff der italienischen Armee, welcher deren Arbeit um die in Seenot geratenen Flüchtlinge aufzeigt, das ganze Leid samt schockierender Bilder (hinter dem Bild) in lupenreiner Ästhetik (vor dem Bild) forciert den Zuschauer zur Feststellung, dass hier Wirklichkeit abgebildet wird. Niemand würde solche Szenen nachdrehen; das wird schnell klar. Sind aber womöglich Mischformen erlaubt; vielleicht sogar solche, die Dokumentarfilmmaterial dieser Brisanz mit fiktionalem Inhalt anrühren um eine Gesamtaussage zu erhalten? Der Filmessayist hat hier wesentlich mehr Freiheit, denn er macht seinen Eingriff im Film deutlich; der Film wird regelrecht charakterisiert durch die Intervention. Der Essayist leistet durch sein Einbringen des subjektiven Moments einen klar konturierten Reflexionsmehrwert, dessen Wirklichkeitsbezug nicht die werkseigene Qualität zu eigen hat.

Doch schon 2012, damals mit etwas weniger medien-generierter Aufmerksamkeit behaftet, griff der Film „Die Farbe des Ozeans“ von Maggie Peren ein Flüchtlingsdrama auf. Der Spielfilm ist nicht unerheblich klischeebehaftet konstruiert und besticht bestenfalls durch seine Bildgewalt. Arte bietet folgerichtig im August 2016 den Film (eine Arte-Koproduktion) erneut in seiner Mediathek an, um sich das öffentliche Interesse für die Thematik zu nutzen zu machen. An der teils mächtig-kitschigen Dimension des Films im Kontrast zu „Seefeuer“, vor allen Dingen aber zu wichtigen Filmen wie „Havarie“ von Philip Scheffner, kann man sich durchaus stören. Welche Grundlinien der Medienethik gilt es zu befolgen? Und können Spielfilme mehr oder anders sensibilisieren als doku-fiktionale Produktionen? Sind klassische Dokumentarfilme nicht mehr in der Lage diese Arbeit zu verrichten, weil sich die Wahrnehmung, und in diesem Zusammenhang auch die Aufmerksamkeit, des eigentlich adaptablen Zuschauers massiv verändert hat? Und werden Dokumentarfilme aus diesem Grund immer öfter mit filmischer Ästhetik bestückt, um auf diese Weise den Zuschauer im Stile von „Dokutainment“ spielerisch zum Nachdenken zu bewegen? Vielleicht müssen sich aber die Bilder der Dokumentarfilme auch schlicht von den Bildern aktueller Berichterstattung aus dem Fernsehen unterscheiden, deren Redundanz und Austauschbarkeit uns ein schlechtes Gewissen verpassen, weil wir wir nicht anders können, nicht anders sollen, oder aber es ungemein diffizil ist, hinter diesen Bildern die Einzelschicksale zu ergründen.
1 Eva Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm – ethnographischer Film – Jean Rouch. Hildesheim. S 28.
2 http://www.hdf.dokumentarfilm.info/dokumentarfilm/publikationen/close-up—schriften-aus-dem-haus-des-dokumentarfi/band-22-spiel-mit-der-wirklichkeit.php
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