Adorno versuchte alles, um der freigeistigen Charakterisierung seines untersuchten Gegenstands einen würdig Ausdruck zu verleihen. Auf Seite 9 seines Aufsatzes „Der Essay als Form“ konstatiert Adorno dass der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist, dass er weder wissenschaftlich etwas leiste noch künstlerisch etwas schaffe.1 Sogleich korrigiert er diese Beimessung und versucht selbst einen Begriff zu finden: „Ketzerei“, nämlich eine Ketzerei, die in beiden Bereichen keinen festen Standpunkt hat und dennoch einen Erkenntnisgewinn verbuchen kann.2 Und in diesem einerseits unsicheren Tritt liegt auf der anderen Seite der Umstand begründet, den Essay mit den Begriffen Freiheit und Utopie überhaupt erst gleichsetzen zu können. Nur die geistige Freiheit des Essays vermag das zu erkennen, was wissenschaftlich ohne weiteres als „unerkennbares“ erledigt wird. Der Geist im Essay hat die Möglichkeit, auch die Gegenstände in ihrer Bewegung immer neu wahrzunehmen, und zwar in immer wechselbaren Konfigurationen.
„Das Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt, erteilt, wie meist geschichtlich überdauernde Terminologien, einen Bescheid über die Form, der um so schwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern als Charakteristik der tastenden Intention verfolgt.3
Gerade diese Dynamik, also der utopische Versuch richtig zu liegen und der sicheren Erkenntnis zu erliegen, die zweifelsfreie Gewissheit nie jemals überhaupt erreichen zu können, macht aus dem Essay eine optimale Vorgehensweise, reflektierend und tastend nach einem Gegenstand zu greifen.
Das Buch von Raymond Depardon nimmt als Ausgang die völlige Verweigerung eines Plans. Seine Reise hat weder Ziel noch Anliegen. Mit seiner Kamera versucht Depardon nach allen Regeln der Irrfahrt bzw. nach allen Regeln der Antiregel, etwaige zeitgenössische soziale Phänomene wie Desorientierung oder Vergeblichkeit essayistisch zu verorten, indem er den Aufnahme- bzw. Aufenthaltsort in seiner bewussten Auswahl negiert, wie auch den Rahmen für das Bild (welches er alles andere als der Inszenierung aussetzt, dafür umso mehr der völligen Willkür des Zufalls). Seine Leistung liegt in der Fähigkeit, auch dem belanglosesten ‚Unort‘ einen Hauch eines Unverkennbaren zu vermitteln.
1 Adorno, Theodor (1988): Theodor W. Adorno: Der Essay als Form, In: Noten zur Literatur, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt (M): Suhrkamp, (zuerst 1958).
2 Hamazaki, Keiko (1998): Essay als alternativer Diskurs, in Zu Literat und Literatur Robert Musik. Nr. 7 Tokyo: Graduate School of Humanities Gakushuin University. S. 119 – 137.
3 Adorno, S. 25.
Bildquelle: http://www.le-bal.fr/biographies/raymond-depardon
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.